Stress und Wohlbefinden

Ein junger und ein alter Mönch laufen ihres Weges. Sie kommen zu einem Fluss mit starker Strömung. Als sie sich bereit machen, ihn zu überqueren, sehen sie eine junge Frau, die nicht ans andere Ufer gelangt. Sie bemerkt die Mönche und bittet sie um Hilfe. Der alte Mönch nimmt sie auf die Schulter und trägt sie über den Fluss. Sie bedankt sich und geht davon. Der junge Mönch ist sauer. So richtig sauer.

Stunden später ist er noch immer sauer. Der alte Mönch fragt ihn, was los ist. „Als Mönche ist es uns nicht erlaubt, junge Frauen anzufassen! Wie konntest Du sie über den Fluss tragen?“ Der alte Mönch antwortet: „Ich hab die Frau vor Stunden am Ufer gelassen, aber wie’s aussieht, trägst Du sie noch immer mit Dir herum.“

Stress und Wohlbefinden sind wie Geschwister: eigentlich gehören sie zusammen, liegen aber nicht selten im Streit miteinander.
Stress ist das eher aufgedrehte Geschwisterchen, Wohlbefinden das eher ruhige, entspannte. Stress beschert uns eine gewisse Lust und kann als „Würze des Lebens“ verstanden werden. In der Stressreaktion aktiviert unser Gehirn unser Belohnungszentrum. Dadurch honoriert der Körper Dinge, die dem eigenen Überleben helfen. Deshalb haben wir auch gerne Stress, ja suchen ihn geradezu, denn er erhöht unser Wohlbefinden. Ein herausfordernder, problembeladener, aber letztlich erfolgreicher Tag im Büro gehört ebenso dazu wie die auspowernde Laufstrecke im Wald.
Wohlbefinden und Stress gehen dann einträchtig Hand in Hand, wenn beide einander verstehen, ja wenn beide die identische Erfahrung im Moment teilen: Ich fühle mich wohl und bin gelassen, auch wenn du da bist, Stress!

Somit hängt das Wohlbefinden im Wesentlichen davon ab, wie wir eine Stresssituation bewerten. Ob Stress als unangenehm, bedrohlich oder aber als positive Energie erfahren wird, hängt  weniger von der objektiven Gegebenheit ab, als von der eigenen subjektiven Interpretation. Wenn wir etwa abends angenehme Musik hören, ist dies entspannend und angenehm; hören wir jedoch das identische Musikstück aus der Nachbarwohnung und wollen einschlafen, um am nächsten Morgen fit zur Arbeit zu kommen, wird der identische Reiz zur Stressbelastung.

Es kommt darauf an, wie wir unserem Stress begegnen

Unangenehmen Stress erleben wir dann, wenn wir uns bedroht fühlen. Dabei ist es unerheblich, ob eine Bedrohung objektiv gegeben ist oder nur subjektiv empfunden wird.
Neben der subjektiven Bewertung spielt das Kontrollgefühl eine zentrale Rolle für den Umgang mit Stress: Kann ich die Situation kontrollieren, habe ich die notwendigen Ressourcen (psychische oder körperliche Kraft, Wissen, Verbündete, Geld,…), um die Situation bewältigen zu können?
Das Transaktionale Stressmodell des Psychologen Richard Lazarus aus dem Jahr 1984 gilt bislang als bestens geeignet, um Stress-Prozesse im Wesentlichen verstehen zu können. Das Modell sieht Stresssituationen als komplexe Wechselwirkungsprozesse zwischen den Anforderungen der Situation und der handelnden Person. Was für den einen Betroffenen Stress bedeutet, wird von einem anderen noch nicht als Stress empfunden. Das Modell ist transaktional, da ein Bewertungsprozess zwischen Stressor und Stressreaktion zwischengeschaltet ist. Erst wenn wir etwas als bedrohlich oder für uns schädlich – oftmals in unbewusster, unwillkürlicher Weise – bewerten, erleben wir Stress.
Das Modell beschreibt den Stress-Prozess:
Umweltreize, Stressoren gelangen – nachdem sie von unseren Wahrnehmungsfiltern vorausgewählt, selektiert wurden – in unser Gehirn. Dort werden sie bewertet: als positiv, gefährlich oder irrelevant. Dies ist die erste, primäre Bewertung. In der sekundären Bewertung werden die verfügbaren Ressourcen analysiert: sind sie ausreichend oder unzureichend? Werden sie als unzureichend bewertet, wird eine Stressreaktion ausgelöst. Es wird eine Bewältigungsstrategie entworfen, die von der Situation sowie von den Eigenschaften und kognitiven Strukturen der Person abhängig ist. Dieser Umgang mit einer Bedrohung wird als Coping bezeichnet. Aggression, Flucht, Verhaltensalternativen, Änderung der Bedingung oder Verleugnung der Situation sind einsetzbare Bewältigungsstrategien. Über Rückmeldungen zum Erfolg oder Misserfolg lernt die betroffene Person im Laufe der Zeit, mögliche Bewältigungsstrategien selektiv einzusetzen.

Achtsamkeit als Schlüssel zur Stressbewältigung

Die Erkenntnis von Lazarus, dass wir unsere Bewusstheit zwischen Reiz und Reaktion zwischenschalten können, ist von großer Bedeutung: wir sind der Stressreaktion nicht hilflos ausgeliefert! Im Achtsamkeitstraining MBSR lernen wir, unsere Perspektive auf die Dinge zu verändern, die uns Stress bereiten. Wir lernen, die Auswirkungen der Stressoren auf unseren Körper und unsere Denkprozesse achtsam wahrzunehmen und den Stressauslösern gegenüber eine andere, konstruktivere Haltung einzunehmen.
Auch für dauerhaften Stress stehen uns von Natur aus die in uns vorhandenen Ressourcen zur Verfügung, mit denen wir den chronifizierten Stressreaktion anders begegnen können. Der heilsame Weg der Achtsamkeit mit seinen Achtsamkeitspraktiken stellt auch auf lange Sicht eine sehr wirksame Stressbewältigungsstrategie dar. Wir lernen mehr und mehr die Hintergründe unseres Stresses kennen und werden Schritt für Schritt einen achtsameren und konstruktiveren Umgang mit Stress entwickeln.

Die folgende Gegenüberstellung von achtsamem und unachtsamem Lebensweisen fußt auf den differenzierten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Stressforschung.

Was uns stresst und leiden lässt

Wenn wir unachtsam sind, finden wir uns oft in folgenden Verfassungen wieder:

  • beschleunigt („Mir läuft die Zeit davon!“)
  • im „Autopilot“ (wie fremdgesteuert durch Gewohnheiten)
  • fern von dem, was wir unbedingt haben oder sein wollen
  • gefangen in unerwünschten und unangenehmen inneren oder äußeren Situationen
  • alles und jeden bewertend
  • mit Selbstzweifeln und Überforderungsgefühlen
  • momentan ungeliebt oder unfähig zu lieben

Was uns trotz Stress entspannt und glücklich macht

Wenn wir achtsam sind,…

  • entschleunigen wir so, dass wir trotz Stressoren den Moment an sich wahrnehmen können
  • bewahren wir uns den „Anfängergeist“ in dem Bewusstsein, dass kein Augenblick dem anderen gleicht, kein Augenblick gewöhnlich ist
  • akzeptieren wir, was wir haben, sind oder fühlen; wissend, was wir verändern können und was nicht; wir sind zunehmend frei von automatisierten, „verspannten“ Bewertungen; wir lernen, zu agieren, statt zu reagieren
  • lernen wir, Situationen, in denen wir uns wiederfinden, anders zu verstehen, „Bauch“ und „Kopf“ und „Herz“ in eine ausgewogene Balance zu bringen; durch dieses Gleichgewicht vertrauen wir in Stresssituationen der eigenen inneren Weisheit und den Selbstheilungskräften in uns
  • sind wir stärker mitfühlend, freundlich und liebevoll zu uns selbst und zu anderen, was auch das eine oder andere „Nein“ und eine sinnvolle Abgrenzung gegenüber sinnlosen Anforderungen bedeuten kann

Wenn wir unachtsam gestresst sind, entsteht durch äußere oder innere Reize eine leidensvolle psychische und körperliche Anspannung.
Wirkt Stress dauerhaft auf uns ein, kann das krank machen.

Wenn wir achtsam sind, erkennen wir Stress-Reize mit ihren psychischen und körperlichen Reaktionen frühzeitig und
können so Stress im Moment und auf Dauer besser bewältigen, das heißt auf ein für uns sinnvolles Maß reduzieren.